Christel M.
Jahrgang 1931, zum Zeitpunkt der Aufzeichnung 89 Jahre alt. Seit ihrer Kindheit wohnhaft in Gelsenkirchen Bismarck.
Als sie 2 Jahre alt war, zog Christel mit ihrer Familie nach Gelsenkirchen Bismarck, noch heute lebt sie im gleichen Haus. Nachdem die Mutter beinahe 6 Jahre schwer krank war und Christel praktisch bei ihr im Krankenhaus aufgewachsen ist, erlag diese schließlich im August 1939 ihrer Krankheit. "Mutter sagte zum Schluss immer wieder 'Bald wird es Krieg geben"', doch ernst genommen hat man sie nicht."
Im September 1939 begann schließlich der Krieg. Damals war Christel 8 Jahre alt und war nun mit ihrem Vater und der Schwester allein. Schon bald darauf wurden die Schulen in der Umgebung geschlossen, doch man konnte dort trotzdem gefundene Granatsplitter und ähnliches abgeben.
Zum Schutz seiner Kinder, gab der Vater sie zur Mutter-Kind-Verschickung, wo sie nach Niederbayern evakuiert wurden. Christel erzählt, sie hatte dort eine sehr schlimme Zeit. So hatte sie dort einen Schulweg von über einer Stunde und musste im streng katholischen Ort noch vor der Schule in die Kirche. Sie erlebte viel harte Feldarbeit, musste im Sommer immer Barfuß laufen, um Schuhe zu sparen. Als sie in tiefem Winter einmal mit vereisten, nassen Strickstrümpfen um 7 Uhr die Kirche betrat, bekam sie direkt von einer Fremden gesagt "geh du lieber in die Schule und trockne dich, da ist es wärmer". Wieder auf dem Hof angekommen, wusste die streng katholische Familie schon, dass sie nicht in der Kirche war und sie musste an einer Küchenbank zur Strafe Kerzen abbeten. Ging es ihr in der Bauernfamilie schlecht, so bat sie der Vater Eselsohren in die Briefe zu machen, die sie ihm schrieb. Leider wussten die Bauern davon und bügelten die Briefe glatt. Anders herum wurden Pakete vom Vater vorher geöffnet und "geplündert", erst danach bekam sie die Reste.
Ihr Glück war dann die Kinderlandverschickung nach Berchtesgaden, wo sie in einer Gastwirtschaft untergebracht wurde, in der man sich wunderbar um sie kümmerte. Die Zeit dort beschreibt sie als eine der schönsten ihrer Kindheit. Sie traf sogar Freunde, die sie von zu Hause aus der Schule kannte.
Bis sie irgendwann nach Lemgo kam, wo sie wieder hart arbeiten musste und unglücklich war. Doch dort hielt es sie nicht sehr lang und sie lief fort. Sie ließ ihre Sachen zurück und nahm nur ihren Schulranzen mit und schlug sich zum nächsten Bahnhof durch. Auf dem Wagondach der Bahn gelangte sie mit Unterstützung von anderen Passagieren zurück nach Gelsenkirchen. Unterwegs halfen sogar die Schaffner, indem sie "Hinlegen!" schrien, sobald ein Tunnel oder Gefahr nahte. Dort angekommen musste Christel feststellen, dass IHR Gelsenkirchen "zerbombt und in Schutt und Asche" vor ihr lag und sie nach dem Weg fragen musste, um ihre eigene Straße zu finden. Der Vater war außer sich und überglücklich zugleich sein Mädchen wieder zu sehen und sie blieb.
Sie mussten keine Flüchtlinge in ihrem Haus aufnehmen, weil es zum Glück zu klein dafür war. Im Garten konnten sie stets Gemüse anbauen. Als sie einmal im Garten war, um welches zu holen, kamen Tiefflieger und schossen auf sie, erinnert sie sich. Sie schmiss sich auf den Boden und wurde nicht getroffen. Die Geschosse und Splitter haben noch ihre eigenen Kinder später im Garten gefunden, erzählt sie mit einem herzhaften Lachen.
Später haben die Mädchen zu ihrem Schutz angezogen mit Mänteln im Keller auf Feldbetten, die mit Stroh aufgefüllt waren, geschlafen, während der Vater vermutlich oben auf der Couch geschlafen hat. Später reichte der Keller nicht mehr und sie musste zum Sellmansbachstollen, wo Holzplanken über den Sellmansbach gelegt wurden, damit sie hinein konnten. So war sie schon an die 1000 Meter tief im Stollen. Später bekam sie einmal die Karten des Stollens gezeigt, erinnert sie sich und war überrascht, wie groß es dort unten ist und dass die Straßen dort schöner, als an der Oberfläche sind. Stolz erzählt sie, hatte sie immer ein kleines Köfferchen mit ein wenig Wäsche und einer goldenen Kette. Einmal jedoch musste es furchtbar schnell gehen, als der Alarm kam und sie schloss es nicht richtig. Als sie über eine Wiese lief, öffnete sich der Koffer und alles verteilte sich. Eine Fremde nahm sie mit den Worten "Du schaffst es nicht mehr, du kommst mit mir" mit und führte sie in ihren Keller. Nach Stunden kam sie wieder heim und ihr Vater "war völlig ausgeflippt", weil sie zum Einen noch lebte und zum Anderen wieder zurück war.
Zwischendurch wurden einige Nachbarn evakuiert. Einer hatte seinen Keller voller Vorräte, hat sogar selbst geschlachtet, erzählt Christel. Dann wurde eine fremde Familie dort einquartiert und die Tochter davon feierte eine riesige Hochzeit. Als die eigentliche Familie zurück in ihr Haus durfte, waren natürlich alle Vorräte aufgebraucht.
Dann sollte aufeinmal der Vater eingezogen werden und dem Volkssturm dienen. Trotzdem er gute Freunde hatte und alleinerziehender Vater war, konnte er sich nicht dagegen wehren. Schließlich sollten die Mädchen ins Heim und weinten bitterliche Tränen, als der Volkssturm vorbei marschierte. "Ich komme wieder", versicherte der Vater. Aber Christel weinte Trotzdem, ihre Schwester konnte ihre Tränen nicht einmal trocknen, als sie sagte "wenn er sagt er kommt wieder, dann kommt er auch wieder". Schlau, wie der Vater war, ließ er sich beim Marschieren schnell zurückfallen, indem er sich immer wieder die Schuhe neu band und sprang schließlich schnell über eine Hecke am Ende ihrer Straße und war schnell wieder bei seinen Mädchen.
"Vor dem Kanal standen die Amerikaner und schossen rüber", erzählt Christel. Damals bekamen sie einen Artillerieschuss direkt ins Dach des Hauses. "An dem Tag bin ich mit meinem Vater auf dem Dach gewesen, um es neu einzudecken", erinnert sie sich. Mit den Kindern der Nachbarschaft stand Christel an der Theodorstraße, um winkend die Panzer zu begrüßen, die dort lang fuhren. "Du nimmst keine Schokolade oder Geschenke an", erzählt sie laut lachend und mit erhobenem Zeigefinger, habe der Vater ihr verher "eingetrichtert" und daran hat sie sich gehalten.
In den schwarzen Häusern der Theodorstraße quartierten sich selbst amerikanische Offiziere ein, die die Bewohner einfach aus ihren Betten vertrieben und sich hinein legten. Zu der Zeit waren noch stehende Dächer mit weißen Fahnen und Bettlaken behangen.
Dunkel erinnert sich Christel sogar an das Läuten der Kirchenglocken und jede Menge Alarm.