Elisabeth K.
Jahrgang 1934, zum Zeitpunkt der Aufzeichnung 86 Jahre alt. Damals wohnhaft in der Gelsenkirchener Altstadt.
"Zum Glück", so sagt sie, "war Vater in der Ortsgruppe, sodass wir nie 'echte Not' kennenlernen mussten." Da ihr Vater auch die Winterhilfe organisierte, hatten sie immer genug zu essen und waren stets gut gekleidet. Und das egal, ob die älteren Geschwister für die Familie "Hamstern" gegangen sind, sie im WeKa zur Kleidertauschbörse gingen, aus den grauen Wollfilzdecken neue Mäntel oder (in der unmittelbaren Nachkriegszeit) aus den großen Hakenkreuzflaggen hübsche Röcke genäht wurden. Sie waren immer gut versorgt.
Mit 10 Jahren war sie im BDM und hatte eine schöne Uniform, mit einem ordentlichen Knoten im Halstuch. Sie strengten sich alle an, aber ihr "Vater war nie einer von denen, die die Nazi-Sache mochten". Und doch sagt sie "man musste immer mit den Wölfen heulen, ob man wollte oder nicht". "Man konnte ja niemandem trauen, nicht mal den Verwandten und der Feind hört mit", so erinnert sie sich ernst. Sie hat sogar ärger von den Nachbarn bekommen, wenn sie nicht ordentlich mit "Heil Hitler" gegrüßt habe.
"In der Schule wurde auf dem Schulhof stets mit dem Hitlergruß angetreten", erinnert sich Elisabeth. Auch Gasmaskenübungen waren an der Tagesordnung. Später war die Schule nicht mehr so regelmäßig und sogar ein Jahr lang gar nicht mehr geöffnet. Jedoch konnte man immer vom Kit befreite Zeigelsteine und Bombensplitter sammeln und diese in der Schule beim Lehrer abgeben, wofür man dann Groschen bekam.
Zwischendurch hat sie mit der Mutter ein Jahr in Polen gelebt, weil diese angeblich nicht "arisch" war, erzählt Elisabeth. Gerade dort angekommen, musste sie sofort zur Toilette, welche sie direkt gezeigt bekam. Als sie nach kurzer Zeit weinend zurück kam, weil sie keine Klospühlung fand, stellten sie belustigt fest, dass es sich nur um ein Plumsklo handelte, so erzählt sie mit einem herzhaften Lachen. Sogar in Polen musste sie regelmäßig zur Schule. Zwei Stunden täglich bekamen die deutschen Kinder Unterricht von einem deutschen Lehrer.
Ihre "liebe Mutter" hat stets ausgebombte Nachbarn aufgenommen und bei ihnen wohnen lassen, denn "damals hat die Bevölkerung noch zusammengehalten". Als gelernte Köchin ist der Mutter immer etwas eingefallen, um alle Leute satt zu bekommen. Weil die Leute ständig kamen und gingen, wurde eines Tages sogar die goldene Armbanduhr ihrer Mutter gestohlen, erinnert sie sich. Und doch hatte ihre Mutter immer ein so großes Herz , dass sie sogar einmal, nachdem das Dach ihres Hauses abgedeckt war und russische und polnische Gefangene zum neu eindecken kamen, hoch auf den Dachboden gegangen ist und ihnen heimlich etwas zu Essen bereitgestellt hat. Und das, obwohl man Angst vor den Russen hatte, weil die "vergewaltigen".
Als sie 1944, während des großen Bombenangriffs mit ihrer Mutter auf dem Weg zum Arminbunker war, wurden die beiden verschüttet. Unter Lehm und Geröll vergraben, lag ihre Mutter schützend über ihr. Da ihr Vater wusste, welchen Weg sie gehen würden, konnte er seine Liebsten nach ca. zwei Stunden aus den Trümmern befreien. Noch heute leide Elisabeth in engen und dunklen Räumen, ihre Wohnung ist deshalb offen und freundlich gestaltet, ohne eine geschlossene Tür.
Manchmal seien sie zum Bunker gelaufen, da flogen schon die Bomben und man konnte sich nur noch schnell auf den Boden schmeißen. Die erste Zeit hat noch der Luftschutzkeller gereicht, hinterher nur noch der Hiberniabunker. Eine Zeit lang ist sie gar nicht mehr aus dem Bunker heraus gekommen und ihre Mutter ist nur schnell nach Hause gelaufen, um etwas zum Essen zu holen. Als es noch "echte Winter" gab, hatte sie richtige Frostbeulen an den Füßen, weil sie manchmal so schnell weg mussten, dass sie auf Pantoffeln oder Socken zum Bunker gelaufen sind. Und sogar heute jucken ihr noch die Zehen, wenn sie kalte Füße bekommt, erzählt sie mit einem Lächeln. Einmal sind sie ins Bett gegangen, da sind in der Nacht die Fenster zersplittert und ihre Betten waren voller Scherben. Zum Schluss sind sie nur noch komplett angezogen mit Mänteln ins Bett gegangen, um nur noch die Schuhe anziehen zu müssen. Stolz erzählte Elisabeth, durfte sie immer auf dem Weg zum Bunker ein kleines Köfferchen tragen, mit allen "wichtigen Papieren". Eines Tages war sie mit ihrer Mutter auf dem Weg zu ihrer Tante, als der Alarm los ging. Dann sind sie schnell zum Sellmansbachstollen. Dort wurden Bretter über den Sellmansbach gelegt und sie konnten tief genug in den Stollen, um in Sicherheit zu sein.
Zu der Zeit waren nur noch Trümmer in Gelsenkirchen, besonders im Wiehagen. "Ich habe viele Tote gesehen", sagt sie. Die schlimmsten Erinnerungen, die sie bis heute hat, sind der fallende Kirchturm der Emmausgemeinde. Auch war sie zugegen, als das Hans-Sachs-Haus brannte und später die verbrannten Leichen aus den Fenstern geworfen wurden. "Noch heute rieche ich den Krieg, wenn ein Haus abgerissen wird", sagt Elisabeth ganz leise. Schlimm war auch, wenn die Tiefflieger kamen und einfach drauf los schossen. "Da konnte man sich nur auf den Boden schmeißen und warten, wenn man nicht schnell genug beim Bunker war". Das aller Schlimmste, woran sie sich erinnert, sagt sie, war einmal, als sie in der Innenstadt war. Auf der Höhe vom heutigen C&A war ein großer Baum, damals war natürlich alles anders gebaut. In der Näher stürzte ein Flugzeug ab und in diesem Baum hing ein toter Engländer, erzählt sie abwesend, "das werde ich niemals vergessen". Zu der Zeit sah sie immer mehr Massengräber in der Stadt und sie habe sehr viele Tote gesehen, berichtet sie. Überall Bombentrichter, die später einfach mit Schutt zugeschüttet wurden. Von Soldaten, die auf Urlaub waren hörte sie oft "Hier ist es schlimmer, als an der Front".
Gerne erinnert sich Elisabeth jedoch daran, dass sie zum Schluss im Garten Sachen, wie z.B. Mein Kampf, Banner und Messer vergraben haben. "Die könnten bestimmt heute noch da liegen", gibt sie lachend wieder.
1945 kamen die Amerikaner mit ihren Panzern und Jeeps, erzählt sie. Zusammen mit anderen Kindern stand sie am Straßenrand, um ihnen zur Begrüßung zu winken. Dankend bekamen die Kinder Schokolade, Kaugummi und Weißbrot. Dort sah Elisabeth auch zum ersten mal einen "Neger". Liebevoll erinnert sie sich an die schwarzen lächelnden Gesichter mit dem strahlend weißen Lächeln.
"Sowas von freundlich" waren die Amerikaner. Die Kinder wurden sogar dazu eingeladen auf den Panzern und Jeeps mitzufahren. Elisabeth ist aber nicht dazugestiegen, weil man sich erzählte, dass "die Neger Messer zwischen den Zähnen haben". "Die Amerikaner sind unsere Feinde", wurde immer gesagt. Aber neugierig war sie immer. Besonders auf ihre Musik, die Elisabeth noch heute gern hört. Sicher waren die Amerikaner sehr nett, sagt sie, aber einmal kam der Vater nach der Befreiung in eine Kontrolle und da haben sie ihm seine schöne Taschenuhr abgenommen und da war er richtig sauer. "Viele haben sich ja mit den Amerikanern eingelassen, wenn sie verstehen, was ich meine", sagt sie mit einem Zwinkern, so war "das Kinderheim hinterher voller Lockenköpfe".
"Es war Mai, als sie uns befreit haben", sagt Elisabeth und sieht verträumt in die Ferne. Als sie damals die Kirchenglocken, den Alarm und die Hupen gleichzeitighörten, wusste erst niemand, was los war. Dann aber war es ein Moment, in dem alles still stand und "ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich laute Kirchenglocken höre".